Gott kann unseren Hunger stillen

 In der Messe des Herz-Jesu Festes betet die Kirche im Introitus den 32. Psalm. Es heißt dort: „Seines Herzens Sinnen waltet von Geschlecht zu Geschlecht, ihre Seelen dem Tod zu entreißen und sie im Hunger zu nähren.“
Diese Worte zeigen uns, dass es das lebendige Interesse Gottes ist, uns dem Tod durch die Sünde zu entreißen und am wahren Leben Anteil haben zu lassen. Sie zeigen uns aber auch, dass Gott darüber hinaus unsere Seele in ihrem Hunger nähren will. Das heißt, Er will und vor allem Er kann die Sehnsucht unseres innersten Wesens stillen.
● Es gibt Zeiten, da will Gott uns von den Geschöpfen lösen. Er nimmt die Dinge oder Menschen, die uns ans Herz gewachsen sind, von uns und lässt uns erleben, dass alle Geschöpfe endlich sind. Diese Lehre ist zwar meist schmerzhaft, hat aber oft die Wirkung, dass wir uns innerlich von allem lossagen, uns auf unsere Armut vor Gott besinnen und so die Voraussetzung schaffen für eine vertrauliche Freundschaft mit Gott.
Ich las einmal die Geschichte eines Sportlers, der beim Bergsteigen verunglückte. Als ihm klar gemacht wurde, dass er den Rest seines Lebens als Krüppel verbringen müsse, lehnte er sich zunächst gegen Gott auf. Er sah, dass sein ganzes zukünftiges Leben, mit dem er bisher gerechnet hatte und auf das er sich gefreut hatte, mit einem Mal dahin war. Ein Leben als Krüppel, Tag und Nacht ans Bett oder auf eine Liege gefesselt, hatte nichts Lebenswertes mehr in seinen Augen. Und so begann er zu verzweifeln. Glücklicherweise wurde er in einem Kloster gepflegt und dem Mönch, der an seinem Bett den Krankendienst versah, gelang es, ihm einen übernatürlichen Blick auf die Situation zu vermitteln. Gott hatte alles von ihm genommen. Nun war es an ihm, diese Chance zu nutzen und sich auf Den zu stützen, Der allein ewig Bestand hat. Dieses Sich-Besinnen auf Gott hat ihm das Leben gerettet. Trotz der äußerlich gesehen unerträglichen Lage konnte er den Rest seines Lebens als glückliches und erfülltes Leben führen.
So ruft auch uns Gott immer wieder zu sich und ermuntert uns immer wieder von neuem dazu, unser Leben allein auf Ihn als den letzten Grund zu bauen, wenn Er uns die Vergänglichkeit der Geschöpfe spüren lässt. Das gilt nicht nur im Hinblick auf Dinge wie Besitz, Gesundheit oder Ähnliches, sondern auch im Hinblick auf unsere Mitmenschen.
Die vernunftlosen Gegenstände sind vergänglich und können außerdem schon allein deswegen den Hunger unseres Herzens nicht stillen, weil unser Herz wahre Liebe sucht und die vernunftlose Kreatur diese Liebe nicht geben kann. Sie können höchstens Mittel sein, wahre Liebe zu realisieren. Aber auch die vernunftbegabten Wesen, die Menschen, haben ihre Grenzen. Sie haben alle ihre Fehler und Schwächen und auch sie sind vergänglich. So ist jede Freundschaft und selbst die edelste Liebesbeziehung zwischen Menschen von Endlichkeit geprägt. Jede Beziehung, die wir mit anderen Menschen aufbauen, endet einmal in einem Abschied, spätestens im Abschied des Todes. Über den Tod hinaus fortbestehen tut sie nur in Gott.
Aber selbst wenn wir den zeitlichen Aspekt außer Acht lassen, selbst wenn die Liebe, die allein auf einen Menschen als das letzte, höchste und liebenswerteste Gut gerichtet ist, kein zeitliches Ende hätte, so hätte sie doch etwas von Selbsttäuschung an sich, weil wir im Innersten wissen, dass der Mensch ein fehlerhaftes, ja sündhaftes Geschöpf ist, das nicht würdig ist, als das höchste Gut geliebt zu werden.
Wenn Gott uns also wieder einmal auf die eine oder andere Weise die Vergänglichkeit der Geschöpfe erfahren lässt, dann lassen auch wir die Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen. Versuchen wir dann, daran zu denken, dass allein Gott unerschütterlichen und ewigen Bestand hat, dass letztendlich Er allein die Sehnsucht unserer Herzen stillen kann und Er allein verdient, über alles geliebt zu werden.
Wenn wir Ihn dann als das höchste und liebenswerteste Gut und als das Fundament unseres Lebens erkannt und gewählt haben, dann können wir auf diesem Fundament bauend auch die Geschöpfe lieben; nicht als letzten Zweck und höchstes Gut, sondern eben an dem Platz, der ihnen in der göttlichen Ordnung zukommt. Dann werden wir die Dinge als Hilfe auf unserem Weg zu Gott gebrauchen, ohne an sie unser Herz zu hängen und zu verlieren. Und unsere Beziehungen zu den anderen Menschen werden wir als Beziehungen „in Gott“ gestalten. Dieses “in Gott” wird trotz der Wankelmütigkeit, Vergänglichkeit und Unvollkommenheit der Menschen diesen Beziehungen eine Beständigkeit geben, die den rein menschlichen Horizont übersteigt. Denn letzten Endes sind sie dann eben nicht allein auf Menschen gebaut, sondern vor allem auf Gott.
Die Tatsache, dass sie auf Gott gebaut sind, hilft uns dann auch, die nötigen Opfer zu bringen, die solche zwischenmenschlichen Beziehungen oft mit sich bringen können. Auf diese Weise können christliche Ehegatten z.B. auch ihr Eheleben heiligen, indem sie sich dessen bewusst werden, dass ihre Ehe „in Gott“ geschlossen ist und aus Liebe zu Gott gelebt werden soll. Daher kann sie auch dann halten, wenn sie vielleicht sogar schweren Prüfungen ausgesetzt wird oder wenn die Gefühle der Ehegatten zueinander gelegentlich „erkalten“. Denn wahre Liebe zu Gott schenkt uns die Kraft, Opfer zu bringen und so etwaige Krisenzeiten zu überwinden.
Jesus verdeutlicht uns diese Sachverhalte wie immer mit einem sehr einfachen aber dafür umso einprägsameren Bild. Er sagt, wir sollen unser Haus nicht auf Sand, auf die Menschen bauen, sondern auf den Felsen, auf Gott. Alles hat seine Rolle und Funktion in einem Haus. Man könnte die Zimmer gewissermaßen mit unserer Beziehung zu den Menschen und dem Gebrauch von Dingen vergleichen. Das Wohnzimmer oder das Zimmer, wo man sich am meisten aufhält, ist die Beziehung zu den uns ganz nahe stehenden Menschen. Die anderen Zimmer sind je nach ihrer Wichtigkeit und Größe die Beziehung zu den anderen Menschen und Dingen. Aber das Fundament des Hauses, das, worauf jede Beziehung gebaut ist und ruht, ist unsere Beziehung zu Gott. Nur dann ist unser Haus auch vor Einsturz sicher. Wenn wir einen anderen Mensch oder uns selber zum Fundament wählen, läuft unser Haus immer Gefahr einzustürzen, sobald die Schwächen und Grenzen des Fundamentes zu Tage treten.
Wann immer Gott uns also merken lässt, dass wir nicht auf die Geschöpfe bauen und unser Glück nicht in den Geschöpfen suchen sollen, dann verzweifeln wir nicht und meinen nicht, es gäbe nichts, das unseren inneren Hunger stillen könne und dieser Hunger bliebe immer ungestillt. Denken wir anstatt dessen an die Stelle im Psalm: “Seines Herzens Sehnen geht von Geschlecht zu Geschlecht, ... ihre Seelen im Hunger zu stillen”.
Damit wir aber das erleben können, ist es wichtig, dass wir ein persönliches Verhältnis zu Gott aufbauen. Denn wie sollen wir je Gottes Liebe inne werden, wenn wir uns nicht hinreichend bemühen, Ihn lebendig, in einer persönlichen Beziehung, zu erfahren?
Ganz wichtig für die Entwicklung dieses persönlichen Verhältnisses ist natürlich das Gebet. Das Gebet als Gespräch mit Gott. Wir üben es natürlich zu den festgesetzten Zeiten des Tages, aber auch den ganzen Tag hindurch – indem wir versuchen, uns möglichst oft in die Gegenwart Gottes zu versetzen, Ihm den Tag hindurch immer wieder unsere Sorgen anvertrauen, Ihm sagen, was uns bedrückt oder erfreut oder ähnliches. Die kleine Theresia schreibt einmal in ihrer Autobiographie:
“Nie hörte ich Ihn (Jesus) sprechen, aber ich fühle, dass Er in mir ist, jeden Augenblick, Er leitet mich und gibt mir ein, was ich sagen oder tun soll. Ich entdecke gerade in dem Augenblick, da ich dessen bedarf, Klarheiten, die ich noch nicht geschaut hatte, und zwar sind sie zumeist nicht während der Stunden des Gebetes am reichlichsten, sondern eher bei den gewöhnlichen Beschäftigungen meines Tagewerkes...”. So, wie Theresia während den Beschäftigungen des Tages bestimmte Klarheiten erlangen durfte, so können auch wir während der Beschäftigungen des Tages beten. Das ist das Gebet, das uns lehrt, mit Gott an unserer Seite zu leben. Weil es uns lehrt, beständig an Gott zu denken und in Seiner Gegenwart zu leben.
Wichtig ist auch, dass wir die Bereitschaft aufbringen, Gott den Platz in unserem Leben einzuräumen, der Ihm gebührt, den ersten Platz. Das heißt, dass wir uns ganz Gott hingeben. In einem uralten Buch, dessen Titel nicht mehr zu erkennen ist, kann man an einer Stelle lesen:
“Da wir Gott ganz und gar zugehören, nur wegen seinem Dienst auf der Erden sind, und nur in ihm unsre Glückseligkeit finden können, so ist nichts billigers, als dass wir uns mit Ernst und Sorgfalt befleißen, bey dem Aufwachen unsre ersten Gedanken zu Gott zu erheben...”
“Da wir Gott ganz und gar zugehören”. Prägnanter kann man es kaum sagen. Wir gehören letztendlich nicht uns, wir gehören Gott, sind Sein Eigentum und Seine Diener.
Das mag anfangs etwas erschreckend klingen. Wir haben Angst, wir würden uns selber verlieren und unser Leben versäumen. Aber das ist es gerade, was wir hier sagen wollen: Gott allein kann den Hunger unserer Seele stillen. In Gott allein findet die Seele ihre Bestimmung – das, wozu sie geschaffen ist. In Gott allein finden wir unsere Erfüllung und insofern kann man sagen, dass wir erst in Gott uns selber finden und verwirklichen.
Auch scheint es sehr schwer zu sein, sich ganz Gott hinzugeben. Nicht aber, wenn man es so ansieht wie Theresia von Lisieux. Wiederum in ihrer Autobiographie schreibt sie einmal: “Jesus gefällt es, mir den einzigen Weg zu zeigen, der zu diesem göttlichen Glutofen führt, dieser Weg ist die Hingabe des kleinen Kindes, das angstlos in den Armen seines Vaters einschläft”.
Wenn man es so sieht, dann wird es leicht, sich ganz dem lieben Gott zu überantworten. Man versetzt sich in die Rolle eines Kindes und gibt sich Gott hin wie einem liebenden und fürsorglichen Vater.
● Besinnen wir uns immer wieder darauf, dass das, was unsere Seele eigentlich sucht, Gott ist. Und dass bei allem, was wir ersehnen, Gott der letzte Grund ist, der allein unsere Seele erfüllen kann. Der Psalmist sagt das an einer anderen Stelle, im 41. Psalm, mit den Worten: “Wie der Hirsch lechzt nach den Wasserbächen, so lechzt meine Seele nach dir, o Gott”. Vergessen wir das also nicht. Wenn Gott uns Zeiten der seelischen Trockenheit erfahren und uns erleben lässt, dass die Geschöpfe letzten Endes nicht unseren seelischen Hunger stillen können, dann denken wir daran, dass das, was unser Herz eigentlich sucht, Gott ist, und dass Gott aber auch Der ist, Dessen Herzens Sinnen von Geschlecht zu Geschlecht dahin geht, unsere Seele in diesem ihrem Hunger zu nähren.

P. Johannes Heyne

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